Torso III – von Uwe Hübner, 2018

Torso III

von Uwe Hübner, 2018

 

Die Malerin Annedore Dietze hat sich immer wieder mit kunsthistorischen Themen befasst, die sie bei zahlreichen Italienreisen und Besuchen in Museen anderen Orts vertiefte. In dem Gemälde Torso III aus dem Jahr 2009 zeigt sich das ganz unmittelbar.

Der Torso hat sich als künstlerisches Genre im 19. Jahrhundert herausgebildet. Es ist undenkbar, dass womöglich die Römer in ihrer großartigen Prunksucht, mit der sie ihre Villen und Gärten mit Kopien nach griechischen Skulpturen vollpflasterten, auf einen Arm, einen Kopf bei einer Venus oder einen Apollo verzichtet hätten. Gleiches gilt eintausendfünfhundert Jahre später für die Bildhauer der Renaissance. Erst nach dem vor allem in Italien ab dem 15. Jahrhundert Marmorfiguren haufenweise aus dem sprichwörtlichen Dreck der Geschichte zutage gefördert wurden (in Griechenland, der Türkei und Nordafrika erfolgte dies später), wohin sie durch Erdbeben, Kriege, Vandalismus oder schlichtweg durch Verfall geraten waren, erst angesichts der schieren Menge an abgeschlagenen Armen, Beinen, Köpfen, Nasen, Ohren, Penissen – die komplett zu restaurieren ausgeschlossen war – empfahl sich der Torso als eigenständiges Kunstwerk allmählich dem Bewusstsein der Menschen. Allerdings brauchte es von der Renaissance noch einmal über vierhundert Jahre, bis sich das neue Genre als solches manifestierte.

Annedore Dietze hat in ihrem Hochformat den Torso um eine zentrale vertikale Achse angelegt. Dabei ist die Figur einige Zentimeter aus der Mitte nach rechts verschoben, was exakt den 1,7 % des Goldenen Schnitts entspricht. Zerlegt man den Torso gedanklich in Flächen, ergeben sich aus dem mit der Hose bekleideten Unterleib und dem nackten Bauchbereich zwei übereinander liegende Rechtecke, aus den abgerundeten Schultern und den muskulösen Brustansätzen lassen sich kreisrunde Gebilde konstruieren: das Auge verfängt sich bevorzugt in stabilen geometrischen Formen.

Die im Wesentlichen aus Braun-, Ocker-, Rot- sowie Schwarz- und Weißtönen gemalte Figur steht klar auf einem dunklen Grund – wie er von Mantegna, Cranach und so weiter bekannt ist. Aus der Nähe läßt sich jedoch feststellen, dass dieser nicht wie bei den genannten Meistern aus einer einheitlich eingefärbten Fläche besteht. Dietze hat den dunklen Grund durch horizontal gemalte Farbschwankungen differenziert gestaltet, was sich nicht zuletzt wegen der Größe der Fläche als notwendig erweist. Aber auch als ein Gegengewicht zu der sich über die gesamte Vertikale des Hochformats erstreckenden Figur des Bildes wirkt.

Anders als in der Skulptur hat sich in der Malerei der Torso nicht als eigenständiges Genre durchgesetzt. Insofern betritt Dietze ein relativ unbestelltes Feld. Bei genauerer Untersuchung ihres Torsos läßt sich feststellen, dass die Malerin nicht radikal auf dem Genre besteht. Vielmehr läßt sich in bewusster Unschärfe eine Andeutung des Kopfes erkennen. Und auch die Armstümpfe sind nicht mit harten Bruchkanten dargestellt, besonders der längere linke Armstumpf endet deutlich in feinen Ausfransungen. Die für die Betrachter in der Phantasie dann auch eine Vervollständigung zu einer ganzen Figur zulassen.

In der Urfrage der Malerei – Fläche oder Linie – hat sich Annedore Dietze auf die Seite der Fläche positioniert. Diese ästhetische Position stellt sie vor das künstlerische Problem, bei der Gestaltung des nackten männlichen Oberkörpers wie auch der roten Hose, alle räumlichen Effekte ohne die Möglichkeiten der Perspektive erzielen zu müssen; also ausschließlich durch abgestufte Farbflächen.

Erstaunlicherweise gibt es übrigens für die subtile Darstellung von nackter Haut in der Malerei des ausgehenden 19. und dem folgenden 20. Jahrhundert wenige Beispiele. Von Einzeldarstellungen abgesehen findet man sie besonders bei Lovis Corinth und Paula-Modersohn Becker.

Um die plastische Wirkung des Körpers zu erhöhen, bedient sich Dietze auch hier der Unschärfe. So ist die rechte Schulter des Torsos relativ unscharf gemalt, wodurch sie in den Bildhintergrund zurücktritt, gleichzeitig die Räumlichkeit des gesamten Bildes aber verstärkt. Weiter wird die plastische Wirkung auch durch eine angedeutete Schattenpartie auf der linken Körperhälfte verstärkt, wobei diese Schattenpartie ihrerseits eine Diagonale von links unten nach rechts oben bildet.

Dazu arbeitet die Malerin diametral schräg unten, konträr zur unscharf gemalten rechten Schulter, die Berührungslinie der roten Hose und des dunklen Hintergrunds zu einer eleganten, senkrecht fallenden Stoffalte aus.

In der kunsthistorischen Sprachreglung wird die Berührungslinie dabei amüsanter Weise zu einem Paradoxon, nämlich, dass durch das Berühren der Flächen – von roter Hose und dunklem Hintergrund – die sich ergebende Linie innerhalb des ästhetischen Denkens keine Linie (Umrisslinie) bedeutet.

Schließlich eine Bemerkung zum narrativen Gehalt, oder anders gesagt, zum Bildinhalt. Dietze läßt offen, ob es sich bei der dargestellten Figur etwa um einen Mann handelt, der im Begriff ist, ein Sonnenbad zu nehmen oder um einen Sportler oder sonst jemand. Es wird sich allerdings als eine ziemliche Schwierigkeit erweisen, den Betrachterinnen und Betrachtern den freudig ergriffenen Realitätsrest des Bildes auszureden und ihnen zu bedeuten, dass es sich bei dem Torso zum Beispiel nicht notwendig um einen verletzten oder geschundenen Menschen handelt, sondern nur um Malerei, um Farbe auf Leinwand.

 

 

Hautbild – Bildhaut von Susanne Greinke

Hautbild – Bildhaut

von Susanne Greinke, Berlin 2011

Malerei und Tattoo bei Annedore Dietze

 

Ein wuchtiger Rücken, eine Wade oder Brust, die sich dem Blick des Betrachters entgegenwölben. Die Haut, die diese Körperteile umspannt, ist vielfarbig, versehrt, von Spuren und Bildern bedeckt. Sie erscheint als Hautlandschaft, Narbengebiet und Bildträger.

„Tattoo“ nennt Annedore Dietze die im letzen Jahr entstandene Werkgruppe, in der sie sich intensiv mit der Darstellung der Haut auseinandersetzt, Paradoxon und Herausforderung zugleich.

Die menschliche Haut ist ambivalent, übersät mit Sensoren, wird sie dem Taktilen zugeordnet. Als durchscheinende Grenzzone zwischen Innen und Außen verdeckt sie das Innere des Körpers und vermag gleichzeitig seinen Zustand abzubilden, sofern ihre Sprache verstandenen und die Zeichen richtig gedeutet werden. Dabei geht es nicht nur um pathologische Zustände. In der Haut ist das Selbst beheimatet. Sie ist Ort der Selbstveräußerung, ein Seelenspiegel1. Das macht die Haut zu einem Kommunikationsmedium, zur Projektionsfläche individueller Befindlichkeiten wie zur Leinwand für die jeweiligen Kultur. Definiert doch die Kultur, jeglicher Individualität zum Trotz das Zusammenspiel von Oberfläche und dem Dahinter. Davon bleibt auch die Eigenwahrnehmung nicht verschont. Das lässt die Haut zu einem „Schauplatz“2 des Existentiellen werden auf dem sich das Visuelle mit dem Taktilen verbindet.
Wohl aus diesem Grund, berührt uns die Darstellung von Haut durch die Malerei auf besondere Weise. Diese Darstellung kann, wenn sie nicht illusionistisch sein will und das Transluzide und Belebte durch die Schichtung lasierender Farben nachvollzieht, über die Vielfarbigkeit von übereinandergelagerten Flecken und Pinselschwünge erfolgen. Eine solche Form der Malerei legt die Anatomie der Bildwerdung offen, verweist auf die Zeitlichkeit des Malprozesses und bildet eine Entsprechung für die Idee der Haut als„(…) Depot der Erinnerungen, als Lager für die dort eingegrabenen Erfahrungen, (…)“.3 Ein Weg den auch die Malerin Annedore Dietze beschreitet. So lässt es sich erklären, dass man in ihren Bildern vergeblich nach jenem gängigen ästhetischen wie kosmetischen Ideal der Haut als makelloser Membran sucht, einer Haut die geschichtslos und entindividualisiert einen ideal gebauten Körper umschließt. Dietze will sich reale Haut ermalen. Der Reiz makelloser Oberflächen interessiert sie nicht.
War die reale Haut in früheren Bildfolgen jene geschundener Kämpfer, deren Wunden und Male sie als Binnenzeichnung ins Verhältnis zu den großen Körperflächen setzte, ist die Haut nun von nahezu poetisch anmutenden Tattoos gezeichnet – Bilder auf der abgebildeten Haut, sich verdoppelnde Leinwände.

Einige der Figurationen und Ornamente verbinden sich zu Hautkleidern, bedecken die abgebildeten Körperteile wie durchscheinende Spitzen oder Gewebe, während manche der in die Haut gezeichneten Vögel oder Schmetterlinge so erscheinen, als hätten sie sich nur flüchtig niedergelassen. Andere wirken wie frisch eingekerbt. Bildentstehung und Verwundung sind dann eins, die Verletzung der Haut wird in das heftige Stakkato des Pinsels auf der Leinwand übersetzt, als kerbten sich die Linien der Zeichnung oder die getrockneten Ränder des Farbflusses in den gemalten Hautgrund.

Im Unterscheid zu älteren Bildserien Dietzes, die den Körper vorwiegend im Moment der Bewegung festhielt, stellt sie in der Bilderfolge „Tattoo“ den Aspekt des Präsentierens, des Zeigens in den Mittelpunkt. Der Fokus richtet sich auf das Körperdetail, das sich aus zumeist dunklen, kaum definierbaren Hintergrund hebt. Die Möglichkeit von Bewegung bezieht sich auf die Darstellung der Hautoberfläche und den darauf abgebildeten Motiven. Diese Form des Fragmentierens und Zeigens entspricht dem fotografischen Material, von dem sich Dietze anregen ließ: Fotografien eines unbekannten französischen Dermatologen aus den 30er Jahren, Filme, Bildmaterial aus der Tattoo-Szene, wie vom Altmeister der deutschen Tätowierer Herbert Hoffmann. Angelehnt an diese Vorlagen klingt in einigen Arbeiten das Stigma der Tätowierten als Outlaws an, denn bevor die Tätowierung zum tolerierten Körperschmuck avancierte, war sie in ihren europäischen Anfängen Merkmal der edlen Wilden, später Jahrmarktsattraktion und parallel dazu Stigma der Kriminellen, der Seeleute und Huren. Diese trugen ihre realen oder erträumten Biografien in Bilder und Zeichen übersetzt und in ihre Haut geritzt zur Schau. Die Haut war Tagebuch und Bekenntnisort für die Zugehörigkeit zu einer vermeintlichen Gegenwelt 4.

Annedore Dietze hat ihre Hautbilder in Bildhäute verwandelt.

 


[1] Vgl. Claudia Benthin: Haut. Literaturgeschichte-Körperbilder-Grenzdiskurse, Reinbeck, 1999, SA. 111-129.

[2] Vgl. Karl-Josef Pazzini: Haut. Berührungssehnsucht und Juckreiz, in: Claudia Benthien, Christoph Wulf (Hg.): Körperteile. Eine kulturelle Anatomie, Reinbeck 2001, S. 158.

[3] Michel Serres: Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische, Frankfurt am Main 1993, S. 95.

[4] Zur Geschichte der Tätowierung in ihren unterschiedlichen Funktionen vgl. Stephan Oettermann: Zeichen auf der Haut. Die Geschichte der Tätowierung in Europa, Hamburg 1994.